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Heimito von Doderer

Ein Führer durch das Leben des Dichters und durch "seinen" Alsergrund


zum Spaziergang

1. HERKUNFT

Carl Wilhelm (ab 1877 Ritter von) Doderer (1825-1900), der Großvater Heimitos, war Architekt. Der gebürtige Deutsche (Heilbronn) machte in Wien Karriere: hier baute er vor allem für das Militär (sein bekanntestes Werk war das General-Commando-Gebäude in der Universitätsstraße, an dessen Stelle sich heute das Neue Institutsgebäude der Universität befindet) und brachte es bis zum Rektor der Technischen Hochschule (1876).

Gemeinsam mit dem Sohn des Ringstraßenarchitekten Heinrich von Ferstel, Max von Ferstel, war er Bauherr des „Stammhauses" der Doderers in der Stammgasse im dritten Wiener Gemeindebezirk (1882).

Max von Ferstel, der ebenfalls hier wohnte (im vierten Stock), heiratete 1885 eine Schwester der Mutter Heimito von Doderers; Heinrich von Ferstel, der Erbauer der Votivkirche und der Universi

tät, war demnach ein Großonkel des Dichters: „René ging langsam gegen den Alsergrund zu, schräg über den weiten Raum vor der steifleinen-neugotischen Votivkirche; die hing auch mit seiner Familie zusammen; irgendein Onkel oder Großonkel;" (D, S. 1020)

Mehr bedeutete Heimito von Doderer ein (entfernter) Vorfahre mütterlicherseits, Nikolaus Lenau, in dessen Wohnung (im Haus zum blauen Einhorn, Liechtensteinstraße 74) er sogar Romanfiguren - Anna Kapsreiter und die Familie Mayrinker - wohnen läßt.

Vater: Oberbaurat Wilhelm Carl Ritter von Doderer (1854-1932)

Als Ingenieur und Bauunter-nehmer unter anderem beteiligt an der Errichtung des Nord-Ostseekanals (Schleswig-Holstein), der Tauern- und Karawankenbahn, sowie der Regulierung des Wienflusses.

Mutter: Louise Wilhelmine (genannt Willy) von Hügel (1862-1946)

Tochter von Heinrich (ab 1875: von) Hügel, einem reichen Bauunternehmer (spezialisiert auf Eisenbahnbauten). Wilhelm Carl Doderer assistierte ihm bei verschiedenen Bauten; schließlich übernahm er die österreichische Vertretung der Firma Hügels.

Geschwister Heimitos:

Ilse (verh. Mayer) (1882-1979)

Almuth (Martinek) (1884-1978)

Immo (1886-1975)

Helga (Hauer) (1887-1927)

Astri (Stummer) (1893-1989)



2. KINDHEIT UND JUGEND

1896 5. September: Geburt im Laudonschen Forsthaus in Hadersdorf bei Wien (das Haus war vom Vater wegen seiner Tätigkeit im Rahmen der Wienfluß-Regulierung gemietet worden) als Franz Carl Heimito von Doderer.

Wenige Tage nach seiner Geburt wird Heimito zum Familiensitz in Wien gebracht. Hier wächst er hauptsächlich unter der Aufsicht von Gouvernanten und - vorwiegend aus Böhmen und Mähren stammendem - Dienstpersonal auf. Zu seinen Geschwistern hat er wenig Kontakt - mit Ausnahme der jüngsten Schwester Astri.

1902-1914 Vier Jahre Schüler der „Übungsschule der k.k. Lehrerbildungsanstalt, Wien 3." (Kundmann-gasse), dann acht Jahre „k.k. Staatsgymnasium im 3. Wiener Gemeindebezirk". Reifeprüfung am 4. Juli 1914 (eine Woche nach dem Attentat auf den Thronfolger in Sarajewo).

Die Sommerferien verbringen die Doderers auf ihrem Landsitz in Prein an der Rax, dem 1903 (von Max von Ferstel) erbauten „Riegelhof".

Dem dortigen Naturerlebnis steht in Wien das Durchstreifen der Praterauen gegenüber, später dann ausgedehntes Flanieren in weiter entfernten Stadtteilen: „Immer hab` ich nach der gerade entgegengesetzten Seite der Stadt wollen." (D, S. 238f.)

Bald wird der Alsergrund zum

bevorzugten Gebiet.

1915 Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger im k.k. Dragoner-Regiment No.3 „Friedrich August König von Sachsen" in der Breitenseer-Kaserne im 14. Bezirk, einem „Nobelregiment".

Doderer beginnt (alibihalber), Rechtswissenschaften zu studieren.


3. KRIEG - GEFANGENSCHAFT

1916 Als Fähnrich im Jänner zum Militärdienst eingezogen, nimmt Doderer am Feldzug gegen Rußland teil und gerät am 12. Juli in der Schlacht von Olesza (Ostgalizien) in russische Kriegsgefangenschaft, zuerst ins Lager Chabarowsk.

1917-1919 Kriegsgefangenenlager Chabarowsk, Krasnaja Rjetschka, Kannsk-Jenniseisk, Nikolajewsk

1918 wird durch den Separatfrieden von Brest-Litowsk eine Rückführung der Gefangenen möglich, was Doderer bedauert: das Lagerleben „bedeutete für ihn zwei Jahre, in denen er von allem abgeschirmt, dabei mit dem Nötigsten versorgt war - und sich also dem Schreiben widmen konnte wie nie wieder sonst." (Wolfgang Fleischer) Wegen des beginnenden Bürgerkriegs scheitern aber ohnehin alle Versuche, nach Hause zu kommen.

Neben der schriftstellerischen Tätigkeit (seit seinem ersten und einzigen Fronturlaub 1916 ist ihm klar, daß er Schriftsteller werden will) arbeitet Doderer im Lager unter anderem als Holzfäller und Drucker.

Die Texte, die in dieser Zeit entstehen, werden erst 1991 unter dem Titel Die sibirische Klarheit publiziert (Herausgegeben von W. Schmidt-Dengler und M. Loew-Cadonna).

1919 Krasnojarsk. Nach einem Rekrutenaufstand gegen die „Weißen" und die Tschechen (die in Sibirien 1918 die Macht von den Sowjets übernommen hatten) kommt es zu drakonischen Strafmaßnahmen, in deren Verlauf viele Gefangene (auch einige Offiziere, Doderer ist jedoch zum Zeitpunkt des Aufstandes nicht im Lager) hingerichtet werden. Ab diesem Zeitpunkt ist die Situation für die Lagerinsassen unberechenbar, mit der „Insel der Seligen", wie Doderer die Gefangenschaft anfangs bezeichnete, ist es endgültig vorbei.

1920 Im Juni flieht Doderer gemeinsam mit sieben anderen aus dem Lager (wobei ihnen niemand folgt, da die Rote Armee, die mittlerweile die Macht übernommen hat, sich nicht um die Gefangenen kümmert; diese haben sogar eine Ausgangserlaubnis, um selbst für ihren Unterhalt zu sorgen). Auf dem Weg nach Petersburg durchqueren die Flüchtlinge zu Fuß die Kirgisensteppe.

Am 14. August trifft Doderer in Wien (der Hauptstadt einer neuen, dem in der Monarchie aufgewachsenen Schriftsteller völlig unbekannten Republik) ein.

Zwei Tage später schreibt er ins Gästebuch des Riegelhofs: „Nach vierjähriger russischer Kriegsgefangenschaft aus Sibirien durchgebrannt und am 16. August 1920 (Vater's Geburtstag!) wieder am Riegelhof eingetroffen.

Fähnrich Heimito Ritter von Doderer. Gottseidank, es ist alles vorüber und wir sitzen beim Nachtmahl! Bravo Nachtmahl, hoch das Nachtmahl!"



4. STUDIENJAHRE

1920 Studium an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien. Die Auswahl der Fächer erfolgt im Hinblick auf den Beruf des Schriftstellers: „Geschichte und Psychologie, zwei Wissenschaften die sich mit dem Leben unmittelbar beschäftigen! Dies wäre eine entsprechende Ausbildung für einen Prosa-Erzähler!" (Tagebuch 26. 4. 1921)

Doderer wohnt im Haus der Eltern in der Stammgasse. Er nennt sich jetzt auch René Stangeler und beginnt ein Tagebuch zu führen. Er verkehrt in Intellektuellen- und Künstlerkreisen. Im Sommer lernt er die Verlobte seines Kriegskameraden Ernst Pentlarz („der kleine E.P."), Gusti Hasterlik, kennen. Ein Liebesverhältnis entsteht.

In dieser Zeit verfaßt Doderer seine ersten journalistischen Arbeiten. (Wiener Mittagszeitung, Neue Freie Presse, Tagblatt, Der Tag). Auf diese Art verdient er dringend benötigtes Geld; das Vermögen des Vaters, das dieser aus Patriotismus zum größten Teil in Kriegsanleihen angelegt hatte, ist mit dem Krieg verloren gegangen. Hinter dem Rücken des Vaters wird Heimito von seiner Mutter aus deren eigenem Vermögen unterstützt.

Im Laufe seines Studiums wird der Alsergrund immer wichtiger: „In dieser Gegend viele Schichten. Sie war gesegnet. Ich halte sie für eine Central-Gegend

der Wiener Geistesgeschichte. Weininger, Swoboda, Lucka." (Commentarii, 26. 11. 1957)

1921 Doderer besucht Vorlesungen und Übungen in Charakterkunde bei Prof. Heinrich Swoboda (1870-1963), dessen Gedanken sein späteres Daseinskonzept bestimmen werden. „Den Swoboda mag ich sehr gern. Er repräsentiert einen Gelehrten-Typus, der hoffentlich wieder einmal zeitgemäß werden wird." (St., S. 269)

Eine erste Erzählung, Die Bresche, wird von mehreren Verlagen abgelehnt.

1922 Seminararbeit bei Prof. Oswald Redlich: „Das Tagebuch des Wiener Arztes Johannes Tichtl (1477-93)."

Durch Vorlesungen von Prof. Rudolf Allers (1883-1963) angeregt, beginnt sich Doderer mit Thomas v. Aquin zu beschäftigen.

1923 Gassen und Landschaften (Gedichte) erscheint in Wien im Haybach Verlag (dem kleinen Verlag Rolf Haybachs, eines Freundes Doderers, den er in den russischen Gefangenenlagern kennengelernt hatte).

Doderer wird am 30. September zum ordentlichen Mitglied des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung ernannt, schließt den anschließenden zweijährigen Kurs allerdings nicht ab (er holt ihn 1949/50 erfolgreich nach).

Jutta Bamberger wird begonnen (aber nie fertiggestellt, obwohl sich Dode

rer immer wieder damit befaßt: „Keine Figur seines Oeuvre hat den Autor so häufig und so lange beschäftigt wie Jutta Bamberger - als Figur im Werk wie auch als Modell im Leben."(Hans Flesch-Brunningen))

1924 Die Bresche. Ein Vorgang in vierundzwanzig Stunden erscheint bei Haybach (das Werk war bereits im Sommer 1921 vollendet).

Doderer lernt die Gräfin Lotte Paumgarten kennen („Quapp").

1925 Am 22.Juli Promotion zum Doktor der Philosophie. Dissertationsthema (bei Prof. Redlich): „Zur bürgerlichen Geschichtsschreibung in Wien während des fünfzehnten Jahrhunderts."

Mitte September bis Mitte November: Italienreise (Riva, Bologna, Florenz, Padua, Assisi)



5. JOURNALIST - SCHRIFTSTELLER

1926 Von 1924-1926 entstehen sechs Divertimenti.

1927 14.1.1927: Selbstmord seiner Schwester Helga („Etelka")

Sieben Variationen über ein Thema von Johann Peter Hebel erscheint in „Der Tag".

1928 Doderer verläßt sein Elternhaus und zieht nach Döbling (wo er bis 1936 an insgesamt sieben verschiedenen Adressen wohnt). „Für mich war Döbling etwas absolut Neues, als hätt`ich Sumatra entdeckt." (Commentarii, 5. 12. 1961)

1929 Die Lektüre des Buches „Be-kenntnisse eines modernen Malers" von Albert Paris Gütersloh (1886-1973) weckt in Doderer großes Interesse (Bereits Die Bresche war von dessen erstem Roman „Die tanzende Törin" beeinflußt, den Doderer während seiner Gefangenschaft in Sibirien gelesen hatte). Gütersloh wird zum verehrten „Meister" und wichtigen Diskussionspartner in philosophischen und theologischen Themen.

1930 im Saturn-Verlag erscheint Das Geheimnis des Reichs. Roman aus dem russischen Bürgerkrieg. (Das Werk wird auf Wunsch Doderers zu seinen Lebzeiten nicht neu aufgelegt.)

Der Fall Gütersloh erscheint im Haybach Verlag, es ist eine Folge der Auseinandersetzung mit „Bekenntnisse eines modernen Malers" und quasi ein Denkmal für Gütersloh.

Am 28. Mai 1930 heiraten Heimito von Doderer und Gusti Hasterlik nach fast zehnjähriger Beziehung im Standesamt Schlesingerplatz. Doderer sagt später: „Ich mußte wirklich heiraten. Ich wollte keineswegs." (Fleischer)

Die beiden wohnen nie gemeinsam, 1932 trennen sie sich endgültig. In Doderers Romanen ist Gusti als „Grete Siebenschein" sowie als „Camy Schedik (Camy von Schlaggenberg)" porträtiert.

1931 Doderer beginnt die Arbeit an den Dämonen. „Der Saarplatz. Auf der einen Seite wohnte Gütersloh, auf der anderen, schon in der Pfarrwiesengasse drinnen, ich. Hier begann ich, 1931, die „Dämonen", und zwar mit jenem Kapitel des I.

Teiles, das „Topfenkuchen" heißt. (Über meinen Schreibtisch hatt' ich ein Plakat angebracht, darauf stand: „Es wird um sauberes Manuskript gebeten!" (Commentarii, 9. 12. 1965)

Von 1931-1936 entsteht der erste Teil des Romans (unter dem Titel „Die Dämonen der Ostmark").

1932 Von Februar bis Mai wohnt Doderer am Althanplatz Nr.6 als Untermieter Marie Kornfelds. (große Parallelen zu Mary K.)

Am 1. November stirbt Wilhelm von Doderer, der Vater Heimitos.

1933-1935 Am 1. April 1933 tritt Doderer der Nationalsozialistischen Partei bei, wofür er später auch die Trennung von (der Jüdin) Gusti Hasterlik verantwortlich macht, der Hauptgrund war aber wohl die Hoffnung auf bessere Produktionsbedingungen (für das 1934 fertiggestellte Buch „Ein Umweg" sucht er vergeblich nach einem Verlag). Bis auf einige Artikel in der „Deutsch-Österreichischen Tageszeitung" erfüllt sich dieser Wunsch nicht, vor allem auch deshalb, weil er von seiner Mitgliedschaft in der Folge - noch 1933 wird die Nationalsozialistische Partei in Österreich verboten - kaum Gebrauch machen kann.

1936 Einen Ausweg aus dieser Situation sieht er in der Übersiedlung nach Deutschland, wo er ein „Atelier" in Dachau bei München bezieht. Er wird in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen und schreibt im Beitrittsformular: „Im Frühjahr 1933 bin ich der N.S.D.A.P. beigetreten, und habe, wie eben jeder öster

reichische Nationalsozialist deren schweres Schicksal durch die letzten Jahre geteilt, war naturgemäß auch in Polizeihaft." Auch in Deutschland findet er allerdings kaum Publikationsmöglichkeiten.

In Dachau kann Doderer das in Deutschland befindliche Vermögen seiner Mutter nutzen - Zahlungen nach Österreich sind seit 1933 verboten -, was ihm zumindest finanzielle Unabhängigkeit sichert; die journalistischen Arbeiten werden eingestellt.

Der „Ritter-Roman" „Das letzte Abenteuer" entsteht, wird aber erst 1953 publiziert. Auf eine Veröffentlichung des fertigen ersten Teils der „Dämonen" verzichtet Doderer.

1937 Doderer wird vom C.H.Beck Verlag für den projektierten Roman „Ein Mord, den jeder begeht" unter Vertrag genommen (nach Vermittlung des Freundes und ehemaligen Verlegers Rolf Haybach).

Im Oktober lernt er im Zirkus Steig-Knie seine spätere zweite Ehefrau, Emma Maria Thoma, kennen.

1938 Im Mai wird Ein Mord, den jeder begeht fertig; der Roman erscheint im Oktober im Biederstein Verlag (ein Teil des C.H.Beck Verlags).

Am 2. September verläßt Doderer Dachau und zieht wieder nach Wien: seine neue Adresse ist im 8. Bezirk, Buchfeldgasse 6. Im selben Jahr erfolgt die Scheidung von Gusti Hasterlik.



6. KRIEG - GEFANGENSCHAFT (2.)

1939/40 Beginnende Abkehr vom Nationalsozialismus, zugleich Hinwendung zur Katholischen Kirche: nach langem Katechumen-Unterricht bei einem Jesuitenpater (seit 1938) konvertiert Doderer im April 1940 (er war ursprünglich evangelisch getauft, vor der Hochzeit mit Gusti Hasterlik ausgetreten).

„Was sich als Abkehr Doderers vom Nationalsozialismus präsentiert, ist das vielschichtige Produkt aus einer Reihe persönlicher Erfahrungen, im besonderen Desillusionierungen, Glücksfällen wie dem Verlagsvertrag und Schwierigkeiten im Alltagsleben; und die kritische Haltung gegen das Naziregime setzte sich nur langsam durch, und auch sie wurde erworben auf dem für den Autor allemal kennzeichnenden Umweg." (Schmidt-Dengler)

„Ich hielt mich beim deutschen Militär durch fortwährendes Hinaus-Schieben jedes Handelns, ich fiel nicht auf diese konkret gewordene zweite Wirklichkeit herein, mein ,Hegemonikon', meine Leitvorstellung, war das Überleben. Ich bewegte mich wie ein ,Wasserläufer' [...] auf dem zart gespannten Spiegel, und ich verfiel, bei all meiner Dummheit, nie in den Fehler, unter die Oberfläche dieser Scheinwelt und etwa nach den direkt in ihr gespiegelten Dingen greifen zu wollen. Ich benahm mich keineswegs wie in einer realen Welt und ich wußte in jedem Augenblick sehr wohl, daß ich keine solche um mich habe, sondern eine irreale von - immer noch, immer noch - außerordentlicher Tiefe. Doch erwartete ich unausgesetzt ihr Abflachen, ihr Seichter-Werden: und als der Grund dann endlich herauf

trat, setzte ich meine Füße sogleich kräftig auf den wieder sichtbar gewordenen Boden einer ersten Wirklichkeit." (Tangenen, 29. 8. 1956)

1940-1945

Am 30. April 1940 rückt Doderer als Leutnant (später wird er zum Hauptmann befördert) zur deutschen Luftwaffe ein. Noch im Herbst des selben Jahres erscheint bei Biederstein der bereits 1934 fertiggestellte Roman Ein Umweg.

Zunächst kommt er nach Südfrankreich (1941/42 Mont de Marsan, Biarritz), im Frühjahr 1942 als Kompaniechef nach Ryschkowo bei Kursk. Nach einer Neuralgie frontuntauglich, wird er ab Neujahr 1943 auf Flughäfen im Hinterland (Schongau/Bayern, Wiener Neustadt, Vöslau) eingesetzt. 1943/44 ist er Prüfoffizier bei der Annahmestelle für Offiziersbewerber in Wien-Währing.

Ab November 1944 Stationen Bückeburg, Hannover, Eger, Karlsbad, Flensburg, Århus, Ålborg und Oslo, wo er nach der Kapitulation Deutschlands in Gefangenschaft geriet und in Eggemoen (Norwegen) interniert wurde; in der Folge Verlegungen nach Larwik, Hamar, Darmstadt und schließlich Linz.



7. DIE GROßEN ROMANE

1946-1947

Am 31. Jänner 1946 wird Doderer entlassen. Er fährt zu seinem Onkel Richard von Doderer nach Weißenbach am Attersee, da er sich wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft nicht in die russisch besetzten Gebiete wagt.

„Ende des Geschobenwerdens, Durchrutschens und Schwindelns, Beginn des Lebens im eigentlichen Sinne [...]" (Tangenten, 21. 6. 1946)

Die „Strudlhofstiege", 1941 in Frankreich als Abzweigung aus den Tagebüchern begonnen, nimmt nun konkretere Formen an: „Ich schreibe dieses Buch - ursprünglich ein Journal aus Mont de Marsan und Biaritz! - nunmehr einfach als Roman weiter, ohne jedes Streben nach einer novellistischen Knappheit, die innerhalb einer kleineren Arbeit des Gleichgewichts wegen erfordert wäre." (Tangenten, 14. 2. 1946) Die Arbeit an der „Strudlhofstiege" wird die nächsten drei Jahre für sich in Anspruch nehmen.

Im Mai 1946 kehrt er nach Wien zurück, wo er sich vor große Schwierigkeiten gestellt sieht, da er als ehemaliger Nationalsozialist von jeder Publikationsmöglichkeit ausgeschlossen ist. Erst durch Bittbriefe und Interventionen aller möglichen Freunde und Bekannten (vor allem Monsignore Otto Mauer ist erfolgreich) bessert sich seine Lage.

Doderer während der Arbeit an der „Strudlhofstiege".

Am 5. November 1946 stirbt die Mutter in Prein.

1948-1950

Doderer muß sein („arisiertes") Atelier verlassen, da die ursprüngliche Besitzerin aus der Emigration zurückkehrt; ihm wird eine Wohnung einen Stock tiefer angeboten, die er schließlich übernimmt.

Nach der Fertigstellung des Manuskripts der „Strudlhofstiege" schreibt

sich Doderer noch einmal am Institut für österreichische Geschichtsforschung ein - als Absicherung für den Notfall - und absolviert den Kurs diesmal. Abschlußarbeit: „Die Abtwahlformel in den Herrscherurkunden bis zum 10. Jahrhundert." Später spricht er von einer „Eskapade in die Wissenschaft".

Im Juli 1950: Endredaktion der „Strudlhofstiege".

1951 Im Frühjahr erscheint Die erleuchteten Fenster oder Die Menschwerdung des Amtsrates Julius Zihal, ein kleiner, bereits 1939 geschriebener, Roman, im Herbst dann der erste wirkliche Erfolg Doderers als Schriftsteller, Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. Nun rückt wieder das Projekt „Dämonen" in den Vordergrund.

1952 Am 25. September Vermählung mit Emma Maria Thoma in Altötting.

1953 „Die schöne Torte des Ruhms kann ich nicht aufessen." (Commentarii, 24. 1. 1953)

Im Reclam-Verlag (Stuttgart) erscheint die 1936 geschriebene Erzählung Das letzte Abenteuer.

1954 setzen mit dem Literaturpreis für Epik vom Bundesverband der Deutschen Industrie die internationalen Ehrungen und Verleihungen von Buchpreisen ein.

1955 Bei einer Lesung Robert Neumanns lernt Doderer Dorothea Zeemann kennen, eine langjährige Liebesbeziehung entsteht. (Vgl. Zeemanns autobiographisches Buch „Jungfrau und Reptil")

1956 Doderer bezieht im Frühjahr seine letzte Wiener Wohnung: 9. Bezirk, Währingerstraße 50. Er hält sich nun teils in Wien, teils in Landshut (wo seine Frau noch immer wohnt) auf.

Im Biederstein-Verlag erscheint im Herbst Doderers Hauptwerk, der Roman Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff - „Das Werk, dessen Zustandekommen zuletzt mir unbegreiflich wird, läßt mich zurück, unwissend wie ein Kind. (Commentarii, 2. 7. 1956)

Mit diesem Roman ist der endgültige Durchbruch geschafft. Doderer wird mit den berühmtesten Autoren der Weltliteratur verglichen, sein Name in Zusammenhang mit dem Nobelpreis gebracht (den er jedoch wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft nie erhält), seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt und das, was noch nicht publiziert ist, wie beispielsweise einige Gedichte, wird veröffentlicht. Noch im Jahr des Erscheinens der „Dämonen" erhält Doderer eine Titelgeschichte im „Spiegel".



8. DER WEG IN DEN GRENZWALD, DAS LETZTE JAHRZEHNT

1957 „Der Mann, der da heut als ein berühmter herumläuft, dient mir nur zum Schilde, hinter dem ich beschützt meinen geheimen Absichten leben kann." (Commentarii, 23. 4. 1957)

Ein Weg im Dunkeln, Gedichte und epigrammatische Verse, bei Biederstein.

1958 Doderer erhält den Großen Österreichischen Staatspreis und wird Mitglied des Österreichischen Kunstsenats.

Die Posaunen von Jericho erscheint in Zürich bei Arche; dieses siebte und letzte „Divertimento" wurde bereits 1951 fertiggestellt und 1955 erstmals (im „Merkur" publiziert. Doderer hielt es für sein gelungenstes Werk.

1959 Bei Glock und Lutz (Nürnberg) erscheint Grundlagen und Funktion des Romans, ein Essay, hervorgegangen aus einem in Paris gehaltenen Vortrag.

Die Peinigung der Lederbeutelchen, einige Erzählungen, die zum Teil noch aus den Dreißiger Jahren stammen, erscheinen bei Biederstein.

Doderer hält viele Reden, macht Vortragsreisen, genießt also den Ruhm. Trotzdem: „Wenn ich viel noch vor habe, wie sich gestern zeigte, dann muß ich besser auf mich aufpassen, in jeder Hinsicht." (Commentarii, 1. 8. 1959)

1960 „Schwer, diese Tage. Ich bewähre mich, so gut es gehen mag, aber der Organismus spielt mir Streiche. Der Schlaf bei Nacht nicht gut genug, am Morgen dann allzu tief und lang. Das Organische schließt sich oft um uns zum circulus vitiosus (Circulus, nicht Circus!) und rennt um uns herum als ein im Kreise laufender Berg [...], über den wir doch nicht kommen." (Commentarii, 1. 3. 1960)

Doderer muß sich am 6. Dezember einer kleinen Operation an den Stimmbändern unterziehen; im Nachhinein stellt sich heraus, daß es sich um Krebs gehan

delt hat. Regelmäßige Kontrolluntersuchungen folgen. Doderers Sprechstimme verändert sich.

1961 „Ich kann mir nichts mehr leisten und vertrage nichts mehr, weder das Trinken noch das Rauchen. Aber im Grunde habe ich das alles nie vertragen, auch in der Jugend nicht." (Commentarii, 7. 10. 1961)

Doderer wird korrespondierendes Mitglied in der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung.

1962 Bei Biederstein erscheint die Groteske Die Merowinger, „eine großangelegte Lausbüberei" (Fleischer), an die Doderer schon in den dreißiger Jahren gedacht hat.

Im Winter findet sich Doderer in Güterslohs „Sonne und Mond" als Ariovist von Wissendrum in polemischer Weise charakterisiert, was er dem „verehrten Meister" nie vergißt.

1963 Roman Nr.7/1.Teil: Die Wasserfälle von Slunj erscheint bei Biederstein. Es ist der erste Teil (von geplanten vier) eines Projekts, das Doderer seit dem Abschluß der Arbeit an den „Dämonen" geplant hatte. Das Endprodukt, eben der „Roman Nr.7" sollte wie eine Symphonie aufgebaut sein. Am Anfang existiert die Form, in die dann der Inhalt „einschießen" solle (Schmidt-Dengler). „R10 [so hieß das Projekt anfangs] enthüllt das semifinale Aufbauprinzip des Lebens: jedes Gebild ist Compositionsglied eines weiträumigeren." (Nachtbuch, 19. 7. 1958)

„Man muß auch alt und krank

gewesen sein. Das gehört zu einem completten empirischen Ausrüstungs-Satz." (Commentarii, 20. 8. 1963)

1964 Doderer veröffentlicht bei Biederstein seine Tagebücher aus dem Zeitraum von 1940-1950 unter dem Titel Tangenten.

10. Dezember: Bronchographie im Lainzer Krankenhaus, zu Neujahr wird eine Kehlkopf-Geschwulst entdeckt.

1965 „Am meisten interessieren mich die verronnenen Stunden, die ganz unauffälligen, die nichts auszeichnete. Mit denen ists freilich vorbei.." (Com., 1. 10. 1965)

1966 Anläßlich des siebzigsten Geburtstags findet im Palais Schwarzenberg ein großes Fest zu Ehren Doderers statt. Zum selben Anlaß erscheint Meine neunzehn Lebensläufe und neun andere Geschichten im Biederstein-Verlag, im selben Jahr noch Unter schwarzen Sternen.

Am 6. November kommt Doderer mit Darmkrebs ins Krankenhaus Rudolfinerhaus (Wien-Döbling), Pavillon Wilczek, Parterre, Zimmer 4 (jetzt 007)

Am 12. Dezember Operation; am 13. letzte Tagebucheintragung.

Am 23. Dezember stirbt Doderer, er wird am 2. Jänner 1967 im Grinzinger Friedhof beigesetzt. (Grabinschrift: „HIC ET NUNC SEMPER PARATUS")

Posthum erscheint das Fragment des zweiten Teils des Roman Nr.7 unter dem Titel Der Grenzwald.



A. VERWENDETE LITERATUR:

D = Doderer, Heimito von: Die Dämonen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1985

St = Doderer, Heimito von: Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1993

Doderer, Heimito von: Tangenten. Tagebuch eine Schriftstellers 1940-1950. München: Biederstein Verlag 1964

Doderer, Heimito von: Commentarii 1951-1956. Tagebücher aus dem Nachlaß. Band 1. Hrsg. von W. Schmidt-Dengler. München: Biederstein 1976

Doderer, Heimito von: Commentarii 1957-1966. Tagebücher aus dem Nachlaß. Band 2. Hrsg. von W. Schmidt-Dengler. München: Biederstein 1986

Bruckmüller, Ernst: Forschungen zur Geschichte des österreichischen Bürgertums - Person und Werk Doderers in sozialhistorischen Konnotationen. In: Internationales Symposion Heimito von Doderer (5./6. Oktober 1986). Ergebnisse. Wien: Paul Gerin 1988, S.28-41.

Fleischer, Wolfgang: Heimito von Doderer. Das Leben. Das Umfeld des Werks in Fotos und Dokumenten. Wien: Kremauer und Scheriau 1995

Flesch-Brunningen, Hans: Nachwort zu: Doderer, Heimito von: Frühe Prosa. Die Bresche - Jutta Bamberger - Das Geheimnis des Reichs. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Hans Flesch-Brunningen. München: Biederstein 1968

Horowitz, Michael (Hrsg.): Begegnung mit Heimito von Doderer. Wien-München: Amalthea 1983

Loew-Cadonna, Martin:

Loew-Cadonna, Martin: Nachwort zu: Doderer, Heimito von: Die sibirische Klarheit. Texte aus der Gefangenschaft. Hrsg. von W. Schmidt-Dengler und Martin Loew-Cadonna. München: Biederstein 1991

Pfeiffer, Engelbert: Heimito Doderers Alsergrund-Erlebnis. Biographischer Abriß. Topographie. Interpretation. Wien: Selbstverlag Dr. Engelbert Pfeiffer 1983

Schmidt-Dengler, Wendelin:

Schmidt-Dengler, Wendelin: Nachwort zu: Doderer, Heimito von: Die Erzählungen. Hrsg. von W. Schmidt-Dengler. München: Biederstein 1976

Weber, Dietrich: Heimito von Doderer. München: C.H.Beck 1987



B. AUS DEM BESITZ DODERERS stammende Gegenstände im BEZIRKSMUSEUM ALSERGRUND

Als Grundlage dienten vielfach die von Dr. Engelbert Pfeiffer verfaßten Texte der Schautafeln in der Doderer-Gedenkstätte im Bezirksmuseum Alsergrund.

Gegenstände aus dem Besitz Heimito von Doderers:

(Engelbert Pfeiffer)

Möbel: Der größte Teil der Möblierung des Arbeitszimmers stammt aus dem väterlichen Erbe und wurde Heimito schon vor dem Tod Wilhelm Carl Doderers (1932) zugesprochen, blieb aber bis auf weiteres im „Stammhaus", 3. Bezirk, Stammgasse 12, die Empire-Bank etwa bis 1947, erst dann nahm sie Doderer in seine Wohnung (damals Buchfeldgasse).

Die beiden einfachen Stellagen ließ Doderer für die Wohnung in der Buchfeldgasse anfertigen.

Knabenbüste: von Angelo Buzzi-Quadrini, der mit der Familie Doderer entfernt verwandt war. Als Bildhauer, insbesondere aber als Marmorpunktierer arbeitend, hatte er in der Ringstraßenepoche, auch für die Weltausstellung 1873, viele Aufträge. Er war vor allem ein Mitarbeiter Viktor Tilgners, der mit vielen anderen die großen Hofmuseen mit Plastiken schmückte. In der Neuen Hofburg befindet sich auf der Festsaalstiege eine Büste des Kaisers Franz Joseph (1914) aus Laaser Marmor von Buzzi-Quadrini.

Totenmaske: Sie wurde Heimito von Doderer von Fritz Wotruba im Rudolfinerhaus abgenommen.

Reißbretter: Sie dienten der Konstruktion des Romangeschehens, wurden an verschiedenen Stellen im Zimmer aufgestellt und bildeten in ihrer Präsenz eine Hilfe bei kompositorischen Einfällen.

Bogen, Pfeile und Zubehör: Doderer hat schon als Knabe das Bogenschießen (auf Strohscheiben) geübt; die Bogen schnitzte er sich selber. Auch später, zumal in den Sommerferien, wenn er auf dem Rigelhof weilte, oblag er mit Eifer diesem Sport.

Besonders in den Jahren 1935 und 1936 war er hierin aktiv, er wohnte in Döbling und durfte im großen Garten der Villa Boesch, Billrothstraße 73, das Jagdschießen betreiben. Mit ihm war jene „Licea", die wir aus den „Dämonen" kennen, eine siebzehn Jahre jüngere Verehrerin, und die junge Gräfin Paumgarten, jene „Quapp". Licea besorgte ihm so manche Sportutensilien. Es existiert auch ein 72 Seiten starkes Sport-Tagebuch aus jener Zeit, in welches die Leistungsergebnisse eingetragen sind.

H.&Qu.: Firma Hulesch und Quenzel, über die in „Die Merowinger" ein Kapitel handelt.

fili der Krebs: So hieß bei den Seinen der Knabe Heimito. Die sportlichen Unternehmungen wurden „filinisches Bogenschießen" genannt.

hic et nunc, semper paratus: Ein Motto, das Doderer sein ganzes Leben begleitete.

Im Gedicht „An meinen Bogen" - es hat auch eine lateinische Fassung - wird der Akt des Schusses mit dem Pfeil auf das Ziel zur Metapher und zum Symbol für das Finden des rechten Wortes für das Auszusagende.

Steigbügel: Doderer rückte 1915 in die Kaserne Wien, 14. Breitensee ein, als Einjährig-Freiwilliger. Er erhielt dort seine kavalleristische Ausbildung.

Beim Bergabreiten über eine nasse Wiese oberhalb Steinhof kam es zu einem Sturz vom Pferde - das auch stürzte -, ein Schock, dessen sich der Tagebuchschreiber noch öfters erinnerte.

Als Kadett-Wachtmeisterdes k.u.k. Wiener Dragoner-Regiments Nr. 3 Friedrich August von Sachsen kam er an die russische Front und geriet 1916 mit Teilen des damaligen Inf. Rgts. Nr. 57 der XII. Inf. Div., dem er alsbald zugeteilt war, in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst im August 1920 nach Wien zurückkehren sollte.

Ob Doderer nach dieser Zeit wieder ritt, ist nicht bekannt. Der Steigbügel dürfte ein Andenken aus der Militärzeit sein. Es existiert auch ein Reitstock aus dem Besitz des Autors.

Opernglas: Familienbesitz. Es spielt eine wichtige Rolle in „Die erleuchteten Fenster" als „Sechsundsechziger", der von Julius Zihal im Tandelmarkt in der Rossau erstanden wurde.

Originale Entwurf-Skizze Doderers, bez. DD/F/17c, datiert 1. XI. und 11. XI. 55:

Doderer hat sich für sein Romanschaffen die musikalische Kompositionstechnik zum Vorbild genommen. Dabei waren ihm insbesondere Beethoven und Schubert Autoritäten. Ihnen war er schon im Kindesalter begegnet, da im Eltern

haus viel musiziert wurde. Er selber spielte das Cello. Besonders studierte Doderer die Struktur der Symphonien Beethovens, wobei es ihm gerade die VII. angetan hatte. Er fühlte sich in das Verarbeitungsschicksal der Motive und in deren dynamischen Verlauf ein und ließ sich davon bei seinen Kompositionen leiten. „Wir müssen [...] den Roman so weit treiben, daß er die große Orchestersymphonie einholt [...]. Das müssen wir wollen, dann werden wir den Roman schaffen!"

Da seine Romane vielschichtig und personenreich waren, mußte er die einzelnen Komplexe und ihre zeitliche Abfolge (Einheiten, Chronologie u.a.) nicht nur im Auge behalten, sondern aufeinander abstimmen, aber eben nicht ohne Außerachtlassung der Kompositionstechniken, wie sie in der Musik geübt werden, um (Klang-)Gestalten plastisch werden zu lassen, Kontraste zu erzielen, so auch durch Kontrastsetzung, Tempowechsel, Beschleunigung, Stauung, Entladung u.a.m. Und so kontrollierte er jeweils auch Vordergrund, Hintergrund, Kontrapunktik (dort Partitur, hier Bühne, Ambiente, Choreographie). Derartiges war ihm also Vorbild für die Grundrisse der formalen Komposition eines Werks. Um dies zu ermöglichen, verwendete er mehrere Reißbretter, auf die er Blätter heftete, in die die kompositorischen Einheiten eingezeichnet waren, gegliedert in Kategorien wie „Einheiten", „Dynamik", „Motivik", „Chronologie". Über Wochen und Monate waren sie ihm vor Augen, sie begleiteten seine Überlegungen. Freilich: wie beim Schreiben dann die einzelne Szene wurde, wußte er zunächst nicht. Dies überließ er dem eigentlichen schöpferischen Moment, der Eigengesetzlichkeit des Augenblicks.



C. EXKURS: Einige Alsergrunder Schauplätze

(nach E. Pfeiffer)

1 Liechtenwerder Platz ; Café Liechtenwerd. (D, S.907f.)

2 Freud's Branntweinschank (fiktiv) (D, S.908ff.)

3 Liechtensteinstraße 74 : Haus zum blauen Einhorn (1962 abgebrochen, das Einharo befindet sch heute im Bezirksmuseum - Nr.11). 1823 wohnte hier Nikolaus Lenau. Doderer war mit ihm verwandt. In der einstigen Wohnung Lenaus wohnt Anna Kapsreiter, danach das Ehepaar Mayrinker. René Stangeler begegnet hier Paula Schachl (St, S.130f.).

„Man bemerkt nach hundert Schritten, die man noch zwischen gleichhinlaufenden hohen Fronten tat, daß da und dort die Häuser vor- oder einspringen; auch sinkt plötzlich die eine Gassenseite herab bis auf eines oder zwei Stockwerke. Hier steht das Haus ,Zum blauen Einhorn'. Immer aber, mit ein paar Schritten schon, befinden wir uns knapp an der Möglichkeit, herauszugeraten aus dem besonders geformten Kern, den man hier mitten in der sonst so abgeschliffenen Stadt stecken fühlt, hinauszugeraten wieder in ganz durchschnittliche lange Straßenzeilen von heute, wo die Dachkanten hoch und gleichhin laufen und der Abendhimmel als gleichförmiges Band zwischen ihnen." (D, S.882)

4 Pfarrkirche zu den vierzehn Nothelfern . Melzer und Thea heiraten hier (St, S.904). In nächster Nähe das (fiktive) Haus der Schachls.

5 Alserbachstraße 6 : Konditorei , wo Stangeler mit Paula Schachl beisammensitzt (St, S.131ff.) und der Konsular-Akademiker Pista Grauermann dazukommt. (St, S.279ff.)

6 Ecke Boltzmanngasse, Alserbachstraße : Gasthaus „Zur Flucht nach Ägypten". (St, S.129)

7 Nußdorfer Straße 7 : Café Kaunitz (heute Postamt 1094) (z. B. D, S.124ff.)

8 Boltzmanngasse 16 : Gebäude der ehemaligen k.k. Konsular-Akademie (heute US-Botschaft), eröffnet 1906. Stangeler besucht hier Pista Grauermann und lernt Teddy Honnegger kennen. (St, S.105f.)

9 Strudlhofstiege . Erbaut von J. Th. Jaeger, eröffnet 1910.

„Ich liebe diese Stiege so sehr und die Örtlichkeit überhaupt", fuhr Melzer fort. „Und ich kann's gar nicht verstehen, daß die Menschen hier so achtlos und ohne Achtung vor dem Werk hinauf und hinunter rennen. Denn es ist doch ein Werk. Wie?" „Wie ein Gedicht, genau so", sagte Stangeler. „Es ist das entdeckte und Form gewordene Geheimnis dieses Punktes hier. Der entschleierte genius loci. Dieser Sachverstand liegt jedem bedeutenden Bauwerk zugrunde, und tiefer noch als dessen Fundamente: dem Palazzo Bevilaqua in Bologna oder der Kirche Maria am Gestade in Wien. Der Platz war in beiden Fällen ausgespart. Auch für die Strudlhofstiege, auch wenn sie keinen Punkt in der Kunstgeschichte markiert, heute wenigstens und für uns. Die Zukunft kann auch das sehr anders wenden." (St, S.490)

10 Währinger Straße 50 : Doderers Wohnhaus von 1956 bis zu seinem Tode 1966.

11 Währinger Straße 43 : Bezirksmuseum Alsergrund mit den Doderer-Gedenkräumen (Inventar aus der Wohnung des Autors, Dokumentation).

12 Universitäts-Kliniken (hier liegt Mary K. nach ihrem Unfall) (St, S.870f.)

13 Beethovengasse 4 : hier wohnte Prof. Hermann Swoboda, der für Doderer richtungsweisende Lehrer.

14 Schwarzspanierstraße 15 . Hier stand das 1903 abgerissene Sterbehaus Beethovens. Hier wohnte Lenau, starb Weininger.

15 Universitäts-Institute: Hier besuchte Doderer die Vorlesungen des Psychiaters und Psychotherapeuten Prof. Rudolf Allers.

16 Universität (1. Bezirk). Doderer studierte hier Geschichte.

17 Donaukanal bei Fernwärmewerk . Standort der beiden Schlote, die Thea auffallen, während sie auf Melzer wartet. (St., S.819)

18 Spittelauer Lände/ Gussenbauergasse : Editha Pastrés Wohnung.

19 Donaukanal, Ecke Brigittenauer Lände/Webergasse (20. Bezirk): Standort des Karussells, das Thea beobachtet, während sie auf Melzer wartet (St., S.817f.)

20 unterhalb Friedensbrücke : Ausmündung des Sammelkanals, wo Meisgeier und Didi ins Kanalsystem einsteigen (D, S.1265ff.). Thea Rokitzer wartet hier auf Melzer (St, S.816ff.).

21 Ecke Alserbachstraße/Roßauer Lände: Taxi-Standplatz, den Mary K. von ihrer Wohnung aus beobachtet (St, S.13, 21f., 515 usw.), eigentlich gemeint Stroheckgasse

22 Althanplatz, jetzt Julius-Tandler-Platz. Franz-Josefs-Bahnhof . Mary K. erleidet hier ihren Unfall (St, S.843ff.).
Haus Nr. 6, „Doro-Stein-Haus" : Wohnhaus der Mary K. (der Autor wohnte hier 1932 bei Marie Kornfeld) und der Grete Siebenschein.
Rechts vom Bahnhof: Café zur Franz-Josefs-Bahn , wo die Hausmeister der „Dämonen" und „Strudlhofstiege" verkehren.
Links das Café Brioni . Doderer war hier oft zu Gast .

23 Porzellangasse 51 : Generaldirektion der österr. Tabak-Regie, Dienststelle Melzers

24 Porzellangasse 46-44 und 48 . Die „Miserowskyschen Zwillinge", erbaut 1890/92. Auf Nr. 44 wohnt E.P.. In einem der Häuser gegenüber ist Melzers Quartier. Im Gasthaus Ecke Pramergasse pflegte Melzer zu speisen. Er trifft sich dort auch mit dem Ehepaar E. und Roserl P. (St, S.328f.)

„Das Haus Numero vierundvierzig in der Wiener Porzellangasse ist (es steht noch) die eine Hälfte eines Doppelgebäudes, aus zwei ganz gleichen Häusern, die zusammen ein symmetrisches Gebilde ergeben (eine beängstigende Bau-Art)" (St, S. 38)

25 Liechtensteinpark (hinter dem Palais Liechtenstein ): Hier berichtet Stangeler Melzer vom Selbstmord Etelkas (St, S.790ff.). Melzer weilt hier mit Thea Rokitzer (St, S.859ff.).

26 Ecke Türkenstraße/Roßauer Lände :: Hier stand bis 1945 der „Tandelmarkt", wo Julius Zihal in „Die erleuchteten Fenster" seinen Feldstecher erwirbt.

27 Ecke Wickenburggasse/Alser Straße (8. Bezirk): Der Rittmeister Eulenfeld trifft sich hier mit seinen Freunden zum Auto-Ausflug (St, S.90).

Wickenburggasse 18 (8. Bezirk): Wohnhaus der Familie Gusti Hasterliks (Doderers erste Frau).

28 Marktgasse 25 : Gasthaus „Küß den Pfennig"

29 Friedensbrücke .



Dieser Führer durch das Leben des Dichters und durch "seinen" Alsergrund entstand für die Heimito von Doderer-Gedenkstätte des Bezirksmuseum Alsergrund, dessen Vorwort hier wiedergegeben wird:

Sehr geehrte Leserinnen und Leser !

Es hat sich gezeigt, daß Besucher unserer Gedenkstätte eine Handreichung wünschen; mögen sie diese hinnehmen zur Erinnerung.

Die Gedenkstätte verdankt ihr Bestehen dem Umstand, daß, einige Jahre nach dem Tod ihres Gatten (1966), die Witwe, Frau Maria von Doderer, plante, die ehedem eher kleine gemeinsame Wohnung Währingerstraße 50 nach ihrem Geschmacke neu einzurichten. Sie entschloß sich, einiges Mobiliar dem Bezirksmuseum Alsergrund - dessen Mitglied übrigens Doderer einst selber gewesen ist - zu überlassen, nebst vielerlei auch, das jetzt in den Vitrinen zur Schau dient.

All dies bildete den Zellkern unserer „Gedenkstätte" und bleibe es. Im „sacrarium" selber ist nichts, was nicht des Dichters Eigentum war.

Im zweiten (vorderen) Raum ist in Vitrinen vielerlei exponiert, was des Dichters häusliches Umfeld bildete.

An den Wänden befindet sich in Wort und Bild, worüber im anschließenden Textteil auszugsweise berichtet wird.

Daß, neben unseren Mitbürgern, insbesondere Besucher aus dem weiten deutschen Sprachraum deren Doderer-Erlebnis hierher führt, erfreut seit vielen Jahren und immer wieder

Engelbert Pfeiffer, den Kustos