Wien–London und nur halb zurück

Erich Fried und der Alsergrund

Nach seiner Flucht über Belgien nach London im August 1938 resümierte Erich Fried in einer skizzenhaften Notiz sein bisheriges Leben; in ihr ist eingangs auch eine knappe Selbstbeschreibung enthalten, die sich folgendermaßen liest: „Erich Fried, * 6. V. 1921 Wien, 9, Alserbachstr. 11. Jude, frühreif, intelligent, eingebildet, körperlich untüchtig, belesen, interessiert […].“

Der biographischen Skizze ging unmittelbar eine schwere Zeit voraus, Frieds (von ihm so genanntes) „Heldenzeitalter“, das er in seiner Notiz so umreißt: „1938. Umbruch. Eltern verhaftet, Not, abenteuerliche Kampfzeit, Verantwortung. Wird selbständig, Vater stirbt.“

Hinter diesen zwölf Worten steht eine Kette schwerwiegender Ereignisse, die der junge Emigrant hinter sich ließ: Am 24. April 1938 wurden seine Eltern verhaftet. Sie hatten versucht, Gelder von Bekannten ins Ausland zu retten; eine dahingehen-de Besprechung im Café Thury – im Erdgeschoß ihres damals gelbbraunen Wohnhauses in der Alserbachstraße – wurde von einem Kellner verraten. In der Wohnung der Familie kam es daraufhin zu einer Hausdurchsuchung. Hugo Fried, Erichs Vater, der versuchte, alle Schuld auf sich zu nehmen, starb am 24. Mai, nachdem ihm ein Gestapobeamter im Zuge eines Verhörs einen Tritt in den Magen verpasst hatte. Erich Frieds Mutter, Nelly Fried, wurde verurteilt. (Sie wurde ein halbes Jahr später freigelassen und emigrierte mit einem Visum, das ihr Sohn ihr besorgt hatte, ebenfalls nach London. Erich Frieds Großmutter, Malvine Stein, – ihr gehörte die Wohnung in der Alserbachstraße – verblieb in Wien; sie wurde ins Ghetto Theresienstadt transportiert und starb 1943 im Konzentrationslager Auschwitz.)

Schon am 6. Mai 1938, seinem siebzehnten Geburtstag, hatte Erich Fried seine Schule verlassen müssen, weil er Jude war. Vom Fenster seiner Wohnung aus beobachtete er, wie ein Jude von einem Uniformierten erschlagen wurde, verfolgte er Plünderungen umliegender Geschäfte; er beobachtete Straßen waschende Juden und teilte selbst einmal beinahe ihr Schicksal. Gemeinsam mit Schulkameraden gründete Fried eine Widerstandsgruppe, die Bücher vor dem Verbrennen rettete und Streuzettel mit einschlägigen Parolen verteilte; die Gedichte für diese Flugblätter stammen von Fried. Was ihm und seinen Freunden widerfahren wäre, wären ihre Aktivitäten aufgeflogen, lässt sich erahnen.

In dem Aufsatz „Meine Toten“ schrieb der vierundzwanzigjährige Fried 1945: „Früher hat man Lebende gekannt und Tote. Jetzt ist eine neue, bedrückende Kategorie dazugekommen: die Verschollenen, die auf dem Kontinent, die Zurückgebliebenen oder Eingeholten, Juden und Antifaschisten aller Schattierungen.“

Unzählige Freunde, Bekannte und Verwandte Frieds fallen in diese Kategorie von Menschen, die der Mensch und Dichter Erich Fried zeit seines Lebens nicht vergessen konnte und wollte. Sie tragen einen Teil der kritischen Ambivalenz, die sein Verhältnis zu seiner Heimat bis zuletzt ausmachte. Erst 1962 sah Fried auf eine Einladung hin seine Heimat wie-der. Auf Dauer zurückkehren wollte er nicht. Auf die Frage nach der „Sehnsucht zurückzukommen“ sollte Fried noch vierzig Jahre nach Kriegsende antworten, er sei in England „steckengeblieben“; und weiter: „Ursprünglich wollte ich gleich nach dem Krieg zurückkehren. Dann dachte ich aber: Die sollen mich gern haben. Ich fahre lieber hin und her.“ Nicht nur familiäre Bindungen hielten ihn auf Dauer vom Kontinent fern. Dass er das Haus in der Alserbachstraße im neunten Bezirk, in dem er siebzehn Jahre lang gelebt hatte, nur noch von außen sah – „das Haus sieht von außen wie neu aus“ – und nicht wieder betreten wollte, wie er selber schreibt, ist nicht zuletzt auch bildlich zu verstehen. Die dahinter stehende Idee lässt sich versuchsweise formulieren als kritische, weil liebende Distanz. Eine Initiative, die sich dem Gedenken dieses Dichters widmet, der seine prägenden Jahre auf dem Alsergrund verbracht hat, wird diesem Verhältnis Rechnung tragen müssen.

Zur Verklärung laden die (autobiographischen) Texte Frieds, die unmittelbar auf Wien und den Alsergrund bezogen sind, ohnehin nicht ein. Sie würden nicht von Fried stammen, würde die in ihnen wirkende Harmonie nicht immer auch an der sozialen und sozioökonomischen Realität der Vorkriegszeit gespiegelt werden, von der die Harmonie aber scheinbar doch nie wirklich gebrochen wird. Ein Prosastück über die Friedensbrücke beispielsweise, in die die Alserbachstraße beim Donaukanal mündet, beginnt mit einer idyllisierenden topographischen Betrachtung und geht über in eine Hinterfragung des „an der Krise vorbei“ gewählten Brückennamens und eine Skizze der „Arbeitslosenriviera“ zwischen der Friedensbrücke und dem Klosterneuburger Steg. Die Darstellung endet aber erst mit einer dynamischen Schlusssequenz, die der Szene ihre Statik nimmt: „Wieder und wieder gingen und fuhren die Menschen über die Friedensbrücke; her und hin, in die Arbeit, aus der Arbeit, auf die Suche nach Arbeit. Demonstranten zogen über die Brücke, mit Fackeln und Fahnen. Einige der Arbeitslosen schlossen sich ihnen an.“

Der Gedenkraum im Bezirksmuseum Alsergrund, der 1994 errichtet wurde, ist ein kleiner Beitrag dazu, Erich Fried, der sich einer heimatfeindlichen ebenso wie einer blind patriotischen Schwarzweißmalerei stets sorgfältig enthielt, in seiner Heimat präsent zu halten. Er stellt ein posthumes Angebot einer stellvertretenden Rückkehr dar, das Frieds Verweigerung einer endgültigen Rückbindung an seine Heimat nicht ignorieren will.

Die Idee und Initiative zu dem Projekt stammt von Schülerinnen und Schülern des Bundesrealgymnasiums IX, Glasergasse 25. Aus dem Nachlass Frieds wurden von seiner Witwe, Catherine Fried-Boswell, die Londoner Möbel, darunter sein Schreibtisch und sein Lieblingssessel, sowie seine Schreibmaschine und andere Gegenstände als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt. Zu sehen ist weiters eine von Catherine Fried-Boswell geschaffene Büste des Autors. Mehrere Ausstellungstafeln führen durch sein Leben. In Fortführung des Projekts entstand – im Auftrag des Bezirksmuseums Alsergrund, der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Erich-Fried-Gesellschaft – der Band „Am Alsergrund. Erich Frieds Jugendjahre in Wien (1921-1938)“ (herausgegeben von Volker Kaukoreit und Wilhelm Urbanek, Turia und Kant 1995).

Eine direkt im Alsergrunder Straßenleben platzierte Gedenkstelle sollte folgen: Unmittelbar neben dem Elternhaus Erich Frieds in der Alserbachstraße wurde ein von Wolfgang Holzhacker gestaltetes Denkmal errichtet, das auf einer Glasstele das Fried-Gedicht „Was es ist“ präsentiert. Daneben aufgeschichtet liegen Granitbrocken, vor dem Hintergrund der Glaswand unweigerlich zerstörerisch wirkend, von dünnem Metallgitter gleichsam zurückgehalten. Eine Sitzbank lädt zum Verweilen ein. Die Gedenkstelle wurde von der Familie Kadanka gestiftet und am 2. Oktober 1996 in einem feierlichen Akt von Stadtschulratspräsident Dr. Kurt Scholz enthüllt.

Wenige hundert Meter entfernt und weitere zwei Jahre später, im November 1998, erfolgte die Benennung des Bundesrealgymnasiums IX nach dem Dichter, in Zusammenarbeit mit dem Bezirksmuseum Alsergrund. Anlässlich des zehnten Todestages wurde, mit Unterstützung der Internationalen Erich-Fried-Gesellschaft, des Österreichischen Literaturarchivs, des Wiener Stadtschulrats und des Unterrichtsministeriums, eine dreitägige Festveranstaltung abgehalten. Der Enthüllung einer Namenstafel an der Fassade des Schulgebäudes und einer Gedenktafel für die Opfer des Nazi-Regimes in der Aula des Gymnasiums (durch den damaligen Nationalratspräsidenten Dr. Heinz Fischer) schlossen sich als Höhepunkte eine Lesung von Barbara Neuwirth, Wolfgang Fischer, (dem inzwischen verstorbenen) Arthur West und Evelyn Schlag sowie eine Diskussion mit den Autoren und Autorinnen an.

In seinen Grußworten hob Bundespräsident Dr. Thomas Klestil besonders Frieds Prinzip hervor, „die Auseinandersetzungen mit Andersdenkenden immer mit dem größten Respekt vor dem jeweiligen Gegenüber zu führen und bei der eigenen Argumentation auch andere Standpunkte zu berücksichtigen und ihnen gerecht zu werden.“ Im Lichte dessen stellt es sich als umso bedauerlicher dar, mit welch unreflektierter Parteilichkeit Erich Fried (und die seinem Gedenken dienenden Projekte) gerade in seiner ehemaligen Heimat, aus der er einst flüchten musste, bis heute von mancher Seite angefeindet wird.

Stefan Winterstein